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Ein Stolperstein für Siegfried Lässig

|   VVN BdA Chemnitz

Am 6. Juli 2007 war es soweit, der erste Stolperstein wurde in Chemnitz verlegt. Mit dem Stein wurde Zita Sonder die Mutter unseres Freundes und Kameraden, langjährigen Vorsitzenden unseres Stadtverbandes Justin Sonder geehrt. Die Familie wurde auf Grund ihres jüdischen Glaubens verfolgt. Vater Leo gehörte der SPD an und wurde gemeinsam mit seiner Frau zunächst nach Theresienstadt und später, wie auch Justin in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Am 6. Juli 2007 war es soweit, der erste Stolperstein wurde in Chemnitz verlegt. Mit dem Stein wurde Zita Sonder die Mutter unseres Freundes und Kameraden, langjährigen Vorsitzenden unseres Stadtverbandes Justin Sonder geehrt. Die Familie wurde auf Grund ihres jüdischen Glaubens verfolgt. Vater Leo gehörte der SPD an und wurde gemeinsam mit seiner Frau zunächst nach Theresienstadt und später, wie auch Justin in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Zwei Jahre Vorbereitung waren nötig, bevor das außergewöhnliche Kunstprojekt von Gunter Demnig gegen das Vergessen, auch in unserer Stadt beginnen konnte. Heute, sechzehn Jahre später, ist es fest verankert, es gibt eine Arbeitsgruppe der Stadt Chemnitz unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters und die Trägerschaft für die Verlegung durch unseren Verband. Die Anfragen nach einer Patenschaft übersteigen die Möglichkeiten der jährlichen Verlegungen. Schulen mit aktiven, interessierten Klassen und Lehrern sind maßgeblich beteiligt, ebenso wie Hinterbliebene aus den USA. Zahlreiche Einwohner der Stadt kümmern sich um die kleinen Gedenkorte.

Im Juni diesen Jahres wurde der 307. Stein im Gehweg verlegt. An der Brauhausstraße 19 wird nun an Siegfried Lässig erinnert. Gerade einmal 18 Jahre ist Siegfried Lässig geworden, als genau an seinem Geburtstag, in Berlin der Reichstag brennt und die Faschisten mit offenem Terror ihren Widersachern begegnen. Da war die bürgerliche Demokratie unter dem Druck von Rechts und mit Billigung der konservativen Kräfte und Teilen des Bürgertums und Vertretern der Industrie und Wirtschaft längst aufgegeben. Doch der junge Chemnitzer, Schüler der Akademie, sein Traum war es, Bauingenieur oder Architekt zu werden, hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst entschieden, auf welche Seite er sich in diesen politischen Kampf stellen wird. War er doch geprägt, von Haus aus und durch Freunde, Kameraden, Genossen und wenige Kommilitonen aus dem internationalistisch geprägten Esperanto-Bund, den Freunden der Sowjetunion, der Roten Sporteinheit, des kommunistischen Jugendverbandes und des Freien Radiobundes. Siegfried Lässig war ein begabter Zeichner, hatte Reisen unternommen u.a. an die Ostsee, in die Schweiz und nach Polen, fand Freude am Kinobesuch, interessierte sich für Sprachen, andere Länder und Technik. Während am 9. Mai in etlichen Orten des Reiches die zukünftige Elite der Nation mit pompös feierlichem Geschrei Bücher auf Scheiterhaufen in Flammen aufgehen lässt, ist Siegfried Lässig im Widerstand gegen die drohende Barbarei bereits aktiv. Heimlich verteilt er Flugblätter und Informationen zum Geschehen, versucht seine Mitmenschen aufzurütteln, sich gegen die neue Ordnung aufzulehnen, sich zu solidarisieren. Die illegal erscheinende Zeitung der Chemnitzer Kommunisten „Der Kämpfer“ und ein kleines Heft „Die Mörder von Potempa“ bringt er, so gut es eben gehen kann, unter die Leute. Studenten, Arbeiter, Unbekannte. Vielleicht Unvorsichtigkeit, vielleicht mangelnde Erfahrung, auf jeden Fall Verrat und Denunziation führen zu seiner ersten Verhaftung im August 1933. Er wird im Gefängnis auf dem Kaßberg und in der Hartmann-Straße festgehalten, befragt, verhört, gefoltert, erpresst und ihm auch ein Angebot zum Überlaufen unterbreitet. Nachweisen kann man Siegfried Lässig nichts. Bei den Verhören bleibt er standhaft und leugnet. Eine Anklage oder gar Prozess finden nicht statt. Mit einem „Schutzhaftbefehl“ wird er in das Konzentrationslager Sachsenburg überstellt. Vier Monate durchlebt und überlebt er das Martyrium. Der Chemnitzer Schriftsteller Stephan Hermlin wird später rückblickend über diese mutigen Menschen berichten. Aus „In einer dunklen Welt“: Wir waren junge Leute, die ihre Zeit verändern wollten und liebten und die nicht wußten, was auf sie zukam: Verwirrung, schreiende Schmerzen, Enttäuschung und Tod. Wir kämpften, so gut wir konnten, aber wußten noch lange nicht, mit wem wir es aufgenommen hatten.“ Noch war Siegfried Lässig davon gekommen, stand unter Polizeiaufsicht, mußte sich täglich im Polizeirevier Bernsdorfer-Straße 5d melden, konnte noch einmal an seine Arbeit und das Studium zurück kehren. Seine Eltern unterstützten ihn aufopfernd, seine Freundschaften hielten und gaben Kraft und Zuspruch. Doch es dauert nur wenige Wochen, bis zur erneuten Verhaftung im Dezember 1933, bei der routinemäßigen Meldung bei der Polizei. Ein Brief nach Frankreich wird ihm zum Verhängnis. Er soll unwahre Behauptungen über die Zustände im 3. Reich ins Ausland geleitet haben und wird festgenommen. Dabei ist der Brief in diesem Augenblick nicht das, woran Siegfried Lässig denkt, denn ausgerechnet an diesem Tag führt er illegale Schriften und Flugblätter mit sich und es gibt keine Möglichkeit mehr, sich dieser zu entledigen. Es folgen erneute Verhöre und Folter von Polizei und Gestapo. Haft in der Hartmann-Straße und auf dem Kaßberg. Dabei bleibt er standhaft, übt keinen Verrat, nimmt alles auf sich. Im Februar 1934 kommt er vor das Sondergericht in Freiberg. Aus dem Zuchthaus Bautzen 1935 schwer krank entlassen, kann er nicht mehr zurück in die Akademie. Die Musterung zur Wehrmacht fällt mit dem Blauen Schein - der Wehrunwürdigkeit - für ihn doch positiv aus, denn in einen Krieg als Kanonenfutter, will er auf keinen Fall. Der Lebensunterhalt wird mit Hilfsarbeiten bestritten. Die Rückkehr in den Widerstand gehört für ihn zur Selbstverständlichkeit – jetzt erst recht. Heimlich hört er Radio, Sender Moskau und 28,9 – der deutsche Sender des republikanischen Spaniens. Gern wäre er selbst im Kampf dabei. Weiter verteilt er Flugblätter, schafft Solidarität mit dem spanischen Volk und versucht in Gesprächen, die Menschen zur Umkehr zu bewegen. Nach einem illegalen Grenzübertritt und einem kurzen Aufenthalt in böhmisch Ostrau erfolgt die letzte, die endgültige Verhaftung. Ohne einen Nachweis einer illegalen Aktivität wird er mit erneutem Schutzhaftbefehl in das KZ Buchenwald überstellt. Als rückfälliger politischer Häftling wurde er besonders markiert, mit einem roten Ring aus Ölfarbe an der Kleidung. In der Lagersprache gehörte er nun zu den Ringeltauben. Er erhielt die Häftlingsnummer 2625. Dass er die Haft überstehen konnte, betrachtete er rückblickend als einen großen Zufall. Die Konfrontation mit unvorstellbarer Gewalt, menschenunwürdigsten Bedingungen zum Vegetieren, Tod und Sterben in jeglicher vorstellbarer Form, qualvoll schwerster Arbeit, führten den jungen Mann und seine Kameraden an die Grenzen der Lebenskraft und des Überlebenswillens. Dabei blieben sie menschlich zueinander, blieben aktive Widerstandskämpfer auch hinter dem Draht. In Buchenwald und später dem Außenlager Lauenburg des KZ Stutthof konnten sie sich behaupten. In den letzten Tagen vor der Befreiung waren sie sogar bewaffnet, flüchteten von dem Todesmarsch. Am 8. März 1945 befreiten ihn Angehörige der Roten Armee. Ohne Schonung und voller Tatendrang stellte er sich dem Ringen um ein Ende des Faschismus zur Verfügung. Im Frühsommer 1945 endlich wieder in seiner Heimat angekommen, musste er sich um die ausgebombten Eltern sorgen, beteiligte sich am Aufbau einer neuen Ordnung, einer anderen, friedliebenden und sozialen Gesellschaft, versuchte anzuknüpfen an seine Träume vor dem 30. Januar 1933 und schöpfte aus den Erfahrungen eines harten Lebens mit unüberwindbaren Brüchen. Siegfried Lässig wurde im Alter von 18 Jahren das erste Mal festgenommen, er war am Tag seiner Befreiung 30 Jahre alt.

Wir danken Gunter Demnig und allen Engagierten in Chemnitz. Stolpersteine sollen auch zukünftig in unserer Heimatstadt verlegt werden. Sie zeugen von den Verfolgten und Widerstandskämpfern. Sie zeigen auch auf, dass es unmöglich sein kann, nichts gewußt zu haben, vom Verschwinden der Nachbarn, den Mitmenschen im Haus, der Leuten der eigenen Straße und Arbeitskollegen.

Ludwig Löwe

Verband der Verfolgten des Naziregimes, ihrer Hinterbliebenen und Freunde in Chemnitz

 

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